Herr Barth fragt bei Horst Gehringer (Stadtarchiv Bamberg) nach
Was war 1919 in Bayern eigentlich los?
veröffentlicht am 18.01.2019
Was genau ist das Stadtarchiv?
Das Stadtarchiv
ist das Gedächtnis der Bamberger Stadtverwaltung und der Bamberger
Bürgerinnen und Bürger. Wir wählen aus den Akten, die die
Stadtverwaltung produziert und nicht mehr benötigt, die Unterlagen
aus, die aus rechtlichen und historisch-wissenschaftlichen Gründen im
Stadtarchiv auf Dauer aufbewahrt werden. Das sind im Moment Unterlagen
im Umfang von rund 8 Kilometern, etwa 2 Millionen Fotos, 20.000 Karten
und Pläne, weit über 10.000 Plakate und vieles mehr …
Seit wann leiten Sie das Stadtarchiv und was begeistert Sie
besonders an Ihrer Arbeit?
Ich leite das Stadtarchiv
seit 2013, war davor Leiter des Staatsarchivs Coburg und davor
Mitarbeiter im Stadtarchiv München. Was mich an der Arbeit besonders
begeistert, ist die Tatsache, dass man es mit ganz unmittelbaren
Quellen aus der Geschichte der Menschen zu tun hat: mit Familienfotos,
mit Akten der Bauverwaltung, um die räumliche und bauliche Entwicklung
Bambergs nachvollziehen zu können, mit Karten und Plänen, aber auch
mit vermeintlich simplen Karteikarten. Wir haben zum Beispiel alle
Standesamtsunterlagen und alle Einwohnermeldekarten der Stadt Bamberg
hier im Haus. Das heißt, wir können in die Einzelschicksale blicken:
Wer wann geboren wurde, wer mit wem verheiratet ist, wie viele Kinder
(geboren wurden), wie viele Umzüge (stattgefunden haben). Sind die
Menschen in der Industrie, in der Verwaltung, im Militär, in der
Kirche beschäftigt gewesen. All das kann man wirklich nachvollziehen
an Hand dieser schriftlichen Unterlagen.
Und: Ich bin selbst Bamberger, das heißt, ich bin in Bamberg geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen, habe dann in München studiert und gearbeitet und bin seit 2013 der Leiter des Stadtarchivs Bamberg.
Welches Schlüsselerlebnis oder welche prägende Person hat Sie
dazu inspiriert, im Kulturbereich aktiv zu werden?
Ich habe in Bamberg das Franz-Ludwig-Gymnasium besucht
und hatte sehr gute Lehrer vor allem in den Sprachen (Latein,
Französisch, Englisch) und Geschichte. Mein Facharbeitsthema 1983
lautete „Revolution und Räterepublik in München“. Dieses Interesse an
der Bayerischen Geschichte ist bei mir geblieben und hat mich
letztlich auch dazu veranlasst, 1987 während meines Studiums ein
Praktikum unter dem damaligen Leiter Dr. Robert Zink im Stadtarchiv
Bamberg zu machen und dann im November 1987 in München das Studium für
das Archivwesen zu beginnen.
Was war 1919 eigentlich in Bayern los?
Nach dem
Weltkrieg, der 1918 zu Ende ging, war Bayern das erste Königreich in
ganz Deutschland, in dem am 7. November 1918 nach 738 Jahren das
Herrscherhaus für abgesetzt erklärt wurde. Danach stellte sich in
Bayern die Frage: Wer wird Regierungschef? Als erster bayerischer
Ministerpräsident übernahm Kurt Eisner von der Unabhängigen
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, einer Abspaltung der SPD aus
dem Jahr 1917, dieses Amt. In den Wochen danach stand eine
Rätedemokratie, also eine Demokratie wie sie zum Beispiel 1917 in der
Sowjetunion (der Union der Räte) realisiert worden ist, oder eine
parlamentarische Demokratie nach westlichem Vorbild zur Diskussion.
Die SPD wollte die parlamentarische Demokratie. Kurt Eisner schwankte
etwas, wollte den Rätegedanken mit in die Verfassung integrieren,
musste sich aber dem Druck der Mehrheitssozialdemokratie beugen und
Wahlen ausschreiben. Bei diesen ersten demokratischen Landtagswahlen,
bei denen auch Frauen das Wahlrecht ausüben durften, erhielt Kurt
Eisner ganze 2,5 % als amtierender Ministerpräsident. Die Niederlage
war ein Desaster für ihn! Er musste zurücktreten, weil er katastrophal
verloren hatte. Auf dem Weg zum Landtag wurde er im Februar 1919 auf
offener Straße erschossen. Man stelle sich vor: Ein politisches
Attentat mitten in München am helllichten Tag. Wenige Stunden später
ging es im Landtag drunter und drüber. Auch dort fielen Schüsse, der
Innenminister wurde schwer verletzt, ein weiterer Abgeordneter
erschossen. Der Landtag ging auseinander, fand sich aber am 17. März
wieder zusammen, weil es ja irgendwie weitergehen musste und die
gewählten Abgeordneten einen Ministerpräsidenten, also einen
Regierungschef, neu wählen mussten. Denn Kurt Eisner war ja tot. Neuer
Ministerpräsident wurde der bisherige Kultusminister Johannes Hoffmann
von der SPD. Der Landtag ging wieder auseinander. Johannes Hoffmann
veranlasste den Rückzug von Landtag und Staatsregierung vor
bürgerkriegsähnlichen Unruhen in München. Er suchte nach einem ruhigen
Ort in Bayern, an dem die Arbeit der Landesregierung wieder
aufgenommen werden konnte.
Warum kam da Bamberg ins Spiel?
Bamberg kam
deswegen ins Spiel, weil hier die Gegebenheiten technisch,
infrastrukturell und vor allem sicherheitsmäßig nahezu optimal waren.
Es gab den Eisenbahnanschluss nach München, die Schnellzugverbindung
nach Nürnberg und Würzburg. In Bamberg konnte man in Ruhe den Landtag
für seine Sitzungen zusammenrufen. Und es gab weitere Pluspunkte.
Bamberg verfügte über kein revolutionäres Potenzial, wie zum Beispiel
der Industriestandort Nürnberg. Dort war die Industriearbeiterschaft
potenziell eine Gefahr für eine weitere Revolution. Das gab es in
Bamberg nicht, dafür gab es hier eine über 2000 Mann starke Garnison
zum Schutz des Ministerpräsidenten, der Staatsregierung und der
Parlamentarier. Und es gab eine Oberpostdirektion und einen Flugplatz
draußen an der Breitenau. Die Oberpostdirektion sorgte für die
Überwachung des Postverkehrs, die Pressestelle der Staatskanzlei mit
der neuen Zeitung „Der Freistaat“ als Publikationsorgan für die
Verlautbarungen der Staatsregierung und – ganz wichtig – der Flugplatz
an der Breitenau für den Transport von Flugblättern nach München, um
dort der Bevölkerung durch den Abwurf zu signalisieren: Die Regierung
Hoffmann ist die einzig demokratisch legitimierte Regierung des
Freistaats Bayern. In München formierte sich Ende März 1919 zunächst
eine anarchistische Räterepublik und dann Anfang April eine
kommunistische Räterepublik nach sowjetischem Vorbild. Diese beiden
Regierungen wurden von der Regierung Hoffmann nicht anerkannt. Man
pochte auf das Alleinstellungsmerkmal der demokratischen Legitimierung
und versuchte dann auch , diese beiden neuen Regierungen zu bekämpfen.
Dazu haben die militärischen Kräfte der Regierung Hoffmann von Bamberg
aus nicht ausgereicht. Hoffmann musste das Reich, also die Zentrale in
Berlin, zur Hilfe rufen. Anfang Mai wurde der sogenannte rote Terror
in München ersetzt durch den weißen Terror der Regierungstruppen,
sodass über 1000 Todesopfer, die Zahlen differieren in der Literatur,
in München zu beklagen sind. In München herrschte wirklich Bürgerkrieg
und Waffengewalt. Die Regierung Hoffmann hat sich zumindest an der
gewaltsamen Niederschlagung der Räterepublik in München beteiligt,
blieb dann aber vom 7. März bis zum 14. August in Bamberg und
arbeitete hier die erste demokratische Verfassung des Freistaats
Bayern aus.
Was finden Sie das Besondere an der Bamberger Verfassung, die
im September 1919 in Kraft trat?
Das Besondere und Augenfällige ist, dass jetzt alle volljährigen
Staatsbürger wahlberechtigt waren. Also auch Menschen, die keine oder
nur wenig Steuern bezahlten. Und ganz wichtig, eine
Bevölkerungsgruppe, die bisher von den Wahlen komplett ausgeschlossen
war, nämlich die Frauen! Seit 1918 bzw. seit der Bamberger Verfassung
in Bayern 1919 haben Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Der
wichtigste Unterschied der Bamberger Verfassung 1919 zur Bayerischen
Verfassung von 1818 ist die Tatsache, dass das Parlament aus geheimen,
freien, gleichen und unmittelbaren Wahlen hervorgeht, dass die
Abgeordneten den Ministerpräsidenten wählen und die Minister und der
Ministerpräsident dem Parlament direkt verantwortlich sind. In der
Monarchie war das Wahlrecht abhängig von der Vermögenskraft bzw. der
Steuerleistung der einzelnen Personen und der König ernannte den
Regierungschef und die Minister. Das heißt, die Staatsregierung in
Bayern war einzig und allein dem König und nicht dem Parlament
verantwortlich. Das Parlament hatte „nur“ das Mitwirkungsrecht bei der
Gesetzgebung und insbesondere das Steuerbewilligungsrecht. Aber es
hatte nicht das Recht, den Ministerpräsidenten zu wählen oder die
Staatsregierung gegebenenfalls auch abzuberufen. Das war der
wichtigste Unterschied.
Wieso ist dieses demokratische Erbe so wenig in der
öffentlichen Aufmerksamkeit präsent?
Das ist eine
sehr gute Frage. Das weiß ich wirklich nicht, zumal Bamberg ohne
Zweifel ein Erinnerungsort der Demokratie in Bayern ist. Das einzige,
was wir in Bamberg sinnbildlich haben, ist eine Gedenktafel am
Landtagsgebäude der Harmonie. Da hängt eine Tafel, an der die
Bamberger jeden Tag mehrfach vorbeigehen, vielleicht ohne sie zu lesen
oder bewusst wahrzunehmen – ich nehme mich da gar nicht aus. Wir
versuchen jetzt mit Ausstellungen, mit Vorträgen, mit einem vor
wenigen Tagen erschienen Buch mit dem Titel „Demokratie in Bayern“,
mit Veranstaltungen, mit Schülerprojekten im Rahmen des
Jubiläumsjahres dieses demokratische Erbe etwas stärker in das
Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken. Was uns hoffentlich gelingt.
Und dieses Interview ist ja der Anfang davon.
Wofür lohnt es sich Ihrer Ansicht nach zu
kämpfen?
Unsere demokratische Kultur auf der Basis des
Grundgesetzes ist der Rahmen schlechthin für unser Zusammenleben. Hier
sind die Grundrechte verankert. Und dieses Grundgesetz ist die Basis
jeden politischen Handelns. Das bietet eine unglaubliche Spannweite
für alle Menschen, für alle Konfessionen, für alle Religionen – gerade
auch für unsere neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir alle müssen
uns an den Normen dieses Grundgesetzes orientieren: An den
Grundrechten, an der Toleranz anders Denkenden gegenüber und natürlich
auch an der demokratischen Wehrhaftigkeit dieses Grundgesetzes, das
vorsieht, dass diese Grundrechte u n b e d i n g t zu schützen sind.
Auf welche Veranstaltungen zum hundertjährigen Jubiläum der Bamberger Verfassung freuen Sie sich besonders? Seit einem Dreivierteljahr läuft die Kooperation des Stadtarchivs mit dem Franz-Ludwig-Gymnasium Bamberg. Da sind zwei sehr engagierte Lehrkräfte des FLG mit einer Anzahl an jungen Leuten beteiligt. Wir waren miteinander bei der Sichtung von audiovisuellen Dokumenten in München im Bayerischen Rundfunk. Die Schülerinnen und Schüler drehen jetzt kurze Filmsequenzen in historischen Kostümen für ein Filmprojekt zum Thema Erster Weltkrieg/Bamberger Verfassung. Außerdem gestalten sie Ausstellungswände, um das Thema „Vom Königreich zur Republik“ in Form einer Wanderausstellung zu präsentieren. Diese Ausstellung soll dann im Jahr 2019 an Schulen und Bildungseinrichtungen gezeigt werden und wird Teil der Aktivitäten rund um das Jubiläum „100 Jahre Bamberger Verfassung“ sein. Auf diese Arbeit freue ich mich jedes Mal, wenn wir uns treffen. Außerdem freue ich mich auf den Festakt mit Staatsregierung und Landtag als offizieller Feier zu diesem bedeutenden Jubiläum. Ein weiteres persönliches Highlight ist eine Vortragsreihe, die ich gerade mit dem Historischen Verein, der Volkshochschule und der Bayerischen Schlösserverwaltung vorbereite. In diesem Rahmen wollen wir im ersten Halbjahr 2019 vier oder fünf Referenten einladen, die das Thema „Bamberg im 19. und zu Beginn deszu Beginn des 20. Jahrhunderts darstellen. Darüber hinaus bin ich sehr gespannt, welche weiteren Projekte und Veranstaltungen– auch in Kooperation mit dem KS:BAM – entstehen. Denn die Bamberger Verfassung – Sie mögen es mitbekommen haben – ist ein Thema, das mir am Herzen liegt.
Welches sind Ihre vier Lieblinge in Bamberg und Umgebung?
Lieblings-Kultur/-veranstaltung/-organisation
Die Wunderburger Kirchweih
Lieblingsort/-raum
Meine Wurzeln liegen in der Wunderburg. Ich wohne jetzt aber in Bamberg Ost, genau gegenüber der Heinrichskirche. Da bin ich daheim.
Lieblingscafé/-restaurant/-keller
Der Wilde Rose-Keller
Brauerei Spezial
Brauerei Keesmann
Persönlicher Geheimtipp
Ein Bummel zum Rosengarten und der Blick von der Neuen Residenz,
in der übrigens 1919 ein halbes Jahr lang Ministerpräsident Hoffmann
seine Dienstwohnung hatte.